Gerichtsverfahren
Gerichtliche Streitigkeiten über Ansprüche aus der Berufsunfähigkeitsversicherung sind kompliziert, oft langwierig und meistens teuer. Anders als es häufig in Medien kolportiert wird, sind sie aber im Verhältnis zu allen Leistungsfällen statistisch selten, denn der größte Teil aller Leistungsfälle wird außergerichtlich reguliert.
Der Gesamtverband der Versicherer (GdV) führt dazu aus:
Vor Gericht landen übrigens nur wenige Fälle, 2021 waren es gerade einmal 2,2 Prozent. Hiervon sind 60 Prozent der Verfahren mit einem Vergleich beendet worden, in zehn Prozent der Fälle hat ein Gericht dem Versicherungskunden Recht gegeben. In einem Viertel der Fälle (25 Prozent) hat das Gericht die Entscheidung des Versicherers bestätigt.
Es gibt fünf Hauptgründe, warum Versicherer nach einer sorgfältigen Leistungsprüfung trotz eigentlich guter Ausgangsposition in BU-Gerichtsverfahren unterliegen können:
- Richter*innen, die in Berufsunfähigkeitssachen entweder unerfahren sind (was für mindestens 60 % aller Verfahren gelten dürfte), generell „keinen Bock“ haben, sich mit der Sache oder dem Thema gründlich zu beschäftigen (und sich ggf. einzuarbeiten) oder – nicht selten – aus nicht nachvollziehbaren Gründen grundsätzlich VN-freundlich sind.
- Klageerwiderungen, die nicht detailliert genug sind, um auch unerfahrenen Richter*innen oder solchen mit Durchschnittskenntnissen die Problematiken und vor allem die Rechtsprechung zu verdeutlichen.
- Keine persönliche Wahrnehmung der Gerichtstermine durch den bearbeitenden Anwalt (denn es muss sichergestellt sein, dass auch alle rechtlichen Aspekte erörtert werden können, unerfahrenen oder desinteressierten Richter*innen Paroli geboten werden kann und Vergleichsgespräche sachgerecht geführt werden können).
- Fehlende Prozesserfahrung des bearbeitenden Anwalts: wer prozessuale Feinheiten und Gepflogenheiten nicht kennt, kann nicht angemessen agieren und reagieren.
- Nicht über Grundkenntnisse hinausgehende medizinische Kenntnisse des bearbeitenden Anwalts (solche Kenntnisse sind für detaillierte Schriftsätze, insbesondere zum "Auseinanderpflücken" von qualitativ fragwürdigen medizinischen Gerichtsgutachten mit dem Ziel, dass ein neues Gutachten eingeholt wird und ggf. zur Vorbereitung des Berufungsverfahrens, unerlässlich).
Warum ist die persönlichen Vertretung von Berufsunfähigkeitsversicherern durch beauftragte Anwälte vor Gericht so bedeutsam?
In Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit Berufsunfähigkeitsversicherungen spielt die Frage der persönlichen Vertretung vor Gericht aus folgenden Gründen eine bedeutende Rolle und stellt gegenüber der Beauftragung von Unterbevollmächtigten IMMER die bessere Alternative dar.
Fachliche Expertise:
Berufsunfähigkeitsversicherungen sind hochkomplexe rechtliche Angelegenheiten, die eine fundierte juristische Kenntnis erfordern. Indem sich Berufsunfähigkeitsversicherer vor Gericht von einem spezialisierten Anwalt persönlich vertreten lassen, gewährleisten sie, dass ihr Fall von jemandem mit umfassendem Wissen und Erfahrung in diesem speziellen Bereich vertreten wird. Der Anwalt kann die komplexen rechtlichen Aspekte des Falles verstehen, angemessene Strategien entwickeln und effektiv auf mögliche Herausforderungen reagieren.
Effektive Kommunikation:
Eine persönliche Vertretung ermöglicht eine direkte und effektive Kommunikation zwischen dem Anwalt und dem Gericht. Der Anwalt kann die Argumente und Positionen des Berufsunfähigkeitsversicherers klar und überzeugend darlegen und auf Fragen oder Bedenken des Gerichts sofort und inhaltlich umfassend reagieren. Dies trägt dazu bei, dass die Interessen des Versicherers effektiv vertreten werden und das Gericht alle relevanten Informationen erhält, um eine fundierte Entscheidung zu treffen.
Vertraulichkeit und Verantwortlichkeit:
Die persönliche Vertretung durch einen beauftragten Anwalt stellt sicher, dass der Berufsunfähigkeitsversicherer ein angemessenes Maß an Vertraulichkeit und Verantwortlichkeit gewährleisten kann. Der Anwalt steht in direktem Kontakt mit dem Versicherer und kann vertrauliche Informationen schützen. Darüber hinaus kann der Anwalt dem Versicherer jederzeit sofort über den Fortschritt des Verfahrens berichten und bei Entscheidungen oder Maßnahmen konsultiert werden, um sicherzustellen, dass die Interessen des Versicherers bestmöglich vertreten werden. Bei einem unterbevollmächtigter Anwalt bleiben diese Aspekte in der Regel auf der Strecke.
Effizienz und Zeitersparnis:
Die persönliche Vertretung vor Gericht ermöglicht es dem Berufsunfähigkeitsversicherer, den Prozess effizienter zu gestalten und Zeit zu sparen. Der Anwalt kann das Verfahren aktiv verfolgen, Fristen einhalten und auf Verzögerungen oder unvorhergesehene Ereignisse reagieren. Dies trägt dazu bei, dass der Fall vor Gericht schneller abgewickelt wird und der Versicherer nicht unnötig Zeit und Ressourcen aufwenden muss.
Zwiespältiger Eindruck beim Gericht:
Bekanntlich bekommt man nie mehr die zweite Chance eines ersten Eindrucks. Die Beauftragung eines Unterbevollmächtigten erweckt bei manchen Richter*innen den Eindruck, dass der für den VN oft existenzielle Fall für den Versicherer eher belanglos oder nebensächlich ist (dies wurde mir im Laufe meiner Tätigkeit schon mehrfach kommuniziert) - eine falsche, aber fatale Wahrnehmung, die in "wackeligen" Fällen das Zünglein an der Waage sein kann.
Unverständliche Abläufe von Gerichtsverfahren aus Sicht der Leistungsprüfer/innen – Woran liegt’s? (Interview eines Versicherers mit RA Neuhaus)
Aus Sicht der Leistungsprüfung sind die Abläufe in Gerichtsverfahren nicht immer völlig nachvollziehbar. Der ursprünglich glasklar erscheinende Fall nimmt plötzlich unerwartete Wendungen. Der eigene Anwalt schildert Entwicklungen, die vor wenigen Monaten noch undenkbar erschien und spricht davon, dass ein klagestattgebenden Urteil drohen könnte. Das folgende Interview wurde 2020 von der Rechtsabteilung eines Versicherers mit RA Neuhaus geführt und gibt einige wichtige Aspekte aus der Praxis wieder, die Nicht-Juristen möglicherweise unbekannt sind.
Lieber Herr Neuhaus, auch wenn viele Sie zumindest vom Namen her kennen, wäre es schön, wenn Sie sich kurz ein bisschen näher vorstellen – vielleicht mit der einen oder anderen Information, die man nicht aus dem Internet erfährt?
Herzlichen Dank erst einmal für Ihre freundliche Einladung. Verheiratet, vier Kinder, ein Hund (Boston Terrier) als fünftes Kind, der wie ein Aufzug heißt – nein, nicht Thyssen Krupp, sondern Otis. Ich züchte exotische Rosenkäfer und liebäugele damit, mir Vampirkrabben und afrikanische Riesentausendfüßler anzuschaffen - nicht zum Essen, sondern als Ersatz für durch Corona ausfallende Reisen. Ich bin ein Kind des Ruhrpotts, also frei durchsprechend. Mein Vater war klassischer Selfmade-Unternehmer, daher liegt mir eine wirtschaftliche Betrachtungsweise im Blut – auch und gerade vor Gericht. Fachanwalt für Versicherungsrecht und BU-Liebhaber aus Leidenschaft wegen der Mischung aus gehobener Juristerei und Medizin. Ich vertrete seit langem ausschließlich Versicherer, nehme alle Gerichtstermine persönlich wahr und gebe daneben noch gerne Seminare und schreibe mit Begeisterung Fachbücher. Letzteres wurde schon als pathologisch bezeichnet, wer weiß, ob was dran ist. Mein neuestes Buch erscheint gerade im Eigenverlag, weil mir die klassischen Verlage zu langsam sind: „Berufsunfähigkeitsversicherung in Zeiten von Corona und Pandemien“.
Weil ich so gerne reise, möchte ich mit einer kleinen Geschichte aus Costa Rica beginnen, einem meiner Lieblingsländer. Stellen Sie sich bitte vor, Sie wollen dort eine Selbstfahrer-Rundreise machen. Natürlich haben Sie sich vorher gut informiert und den Flug, den Miet-wagen und die Unterkünfte gebucht und alles sorgfältig aufeinander abgestimmt. Natürlich haben Sie die Regenzeit gemieden. Sie sollen mittags in der Hauptstadt San Jose landen, dann den Mietwagen übernehmen und noch bei Tageslicht ca. 2 Stunden zu ihrer ersten Unterkunft fahren, einer wunderschönen Dschungellodge. Sie haben ein Navi und – sicher ist sicher, wir sind Deutsche – noch Landkarten im Gepäck. Alles ganz entspannt und „safe“, denn Sie können Auto fahren und haben alles gut geplant und durchdacht. Aber erstens kommt es anders und zweitens als man denkt: der Flug hat 4 Stunden Verspätung, die Schlange am Mietwagenschalter ist kilometerlang, und als Sie endlich losfahren, dämmert es schon. Immer wieder heftiger Tropenregen erschwert das Autofahren in unbekannter Umgebung, eine wichtige Straße ist wegen eines Erdrutschs komplett gesperrt, und nach elendig erkämpften Umwegen müssen Sie die letzten 12 km zur Dschungellodge im Schritt-tempo auf einer Schlammpiste bewältigen - das Navi zeigt diese Strecke schon lange nicht mehr an. Als der Wagen auch noch in einer riesigen Pfütze stecken bleibt und Sie erst einmal herausfinden müssen, wie der zuschaltbare Allradantrieb an Ihrem Fahrzeug funktioniert, sind Sie kurz vorm Aufgeben und denken: es hätte noch hell sein sollen, es hätte nicht regnen sollen, die Straße nicht gesperrt sein sollen usw. Schließlich erreichen Sie Ihr Ziel, allerdings 12 Stunden später als geplant, nervlich am Ende und erschöpft, aber trotz-dem überglücklich. Immerhin sind Sie gesund, darauf jetzt erstmal ein eiskaltes Corona an der Bar der Lodge. Doch die hat schon geschlossen…
Sie ahnen es schon: Auch das an sich „safe“ erscheinende Gerichtsverfahren kann sich zu einer costaricanischen Schlitterpartie entwickeln, denn es sind einige nicht vorab berechenbare Faktoren mit im Spiel. Das sind - in der Reihenfolge ihrer Relevanz - die Richter, Sachverständige, Zeugen und die komplexe Zivilprozessordnung.
Was können Sie uns zu Richtern und Richterinnen sagen?
Wie viel Zeit haben Sie? Ich versuche mich kurz zu fassen. Das Bild von Richtern ist geprägt von einer (zu) idealisierten Vorstellung der Justiz als einer der drei Säulen des Rechtsstaats und der Darstellung in den Medien. Darüber könnte man lange philosophieren, tatsächlich ist das Wesentliche aber ganz einfach, denn es handelt sich um Menschen, die alle im täglichen Leben vorkommenden Stärken und Schwächen haben und in einen „Apparat“ eingebunden sind. Gerichte und damit die Richter sind häufig überlastet, und dann geht es vor allem darum, Fälle möglichst bald vom Tisch zu bekommen. Gehen Sie bitte von folgendem, völlig menschlichen Grundsatz aus: wenige Richter haben wirklich Lust, ein Urteil zu schreiben, denn das macht Arbeit. Jede andere Variante eines Verfahrensabschlusses – Vergleich, Klagerücknahme oder übereinstimmende Erledigterklärung - spart Aufwand und damit Zeit. Auch wenn es manches Rechtsempfinden erschüttern mag: ob eines dieser zeitsparenden Ergebnisse dann auch angemessen (im Sinne von: gerecht) ist, spielt dabei manchmal keine Rolle. Hauptsache der Fall kann im wahrsten Sinne des Wortes schnell ad acta gelegt werden.
Oft sind die Dinge auch so banal, dass man es kaum glauben mag: vor vielen Jahren hat mich meine Frau das erste Mal zu einem Gerichtstermin begleitet und zwar am LG Plauen (Außenstelle des LG Zwickau). Der Termin war für 10:30 Uhr angesetzt, die Einzelrichterin kam gegen 10:40 Uhr, entschuldigte sich nicht und trug farblich kontrastierend zur schwarzen Robe braune Filzpantoffeln. Bei dem dritten der vier zum Berufsbild vernommenen Zeugen meinte die ohnehin völlig desinteressierte Richterin dann, es sei schon 12:15 Uhr, und den letzten Zeugen müsse man jetzt „etwas schneller“ vernehmen, da um 12:30 Uhr Essenszeit sei. Sie stellte dann nur noch komprimierte Fragen, die dem Zeugen sozusagen die Antworten vorgaben und versuchte ersichtlich, die Vernehmung abzukürzen. Natürlich habe ich dann noch die „richtigen“ Fragen gestellt, was ihr überhaupt nicht passte, da dies mehr Zeit in Anspruch nahm. Meine Frau (keine Juristin) meinte nach dem Termin, dass nun ihr Weltbild von einer fairen Justiz erschüttert sei – die Pantoffeln und das wichtige Mittagessens hätten ihr „den Rest“ gegeben.
Ist das ein Ausreißer, oder kommt so etwas öfters vor?
Natürlich ist das nicht der Regelfall. Die Mittagspause ist aber gar nicht mal so selten ein Heiligtum, um das alles andere herumgestrickt wird. Wir haben es mit Menschen zu tun, die unterschiedliche Einstellungen zum Beruf und unterschiedliche Qualifikationen haben. Auch wenn es abgedroschen klingt: manchmal sind sie wie Wasser und gehen den einfachsten Weg.
Apropos Qualifikation: Wie ist das bei Richtern mit Kenntnissen der BU?
Mal mehr, mal weniger, mal gar keine. Im Durchschnitt sozusagen durchwachsen. Es gibt natürlich diverse „alte Hasen“, die sehr gute Kenntnisse haben, die sind aber in der Minderzahl. Dadurch, dass vor einigen Jahren das Versicherungsrecht zu einer Spezialmaterie erklärt wurde, für die die Landgerichte sogenannte Versicherungskammern bilden müssen, ist immerhin etwas besser als früher gewährleistet, dass sich die Richter mit weniger Ahnung auf die Materie halbwegs konzentrieren können. An großen Landgerichten gab es schon immer Versicherungskammern, bei kleineren sind diesen aber oft auch noch weitere Spezialmaterien zugeordnet (häufig Medizinrecht oder Baurecht). Das erschwert es vor allem Anfängern, sich in die mehreren Spezialgebiete einzuarbeiten und darin zurecht zu finden. Und vergessen Sie dabei bitte nicht, dass sozusagen BU das Spezielle vom ohnehin schon speziellen Versicherungsrecht ist. Konkret auf BU bezogen würde ich schätzen, dass ca.15 % der mit dieser Materie befassten Richter gute oder sehr gute BU-Kenntnisse haben, 60 % durchschnittliche und 25 % wenige oder sogar gar keine Kenntnisse. Runtergebrochen kann man sagen: je jünger, desto weniger Kenntnisse und natürlich auch Erfahrungen. Im Studium und Referendariat haben die meisten nichts vom Versicherungsrecht mitbekommen und fangen deshalb irgendwann bei Null an. Und selbst wenn am Beginn eines BU-Prozesses noch der „alte Hase“ zuständig ist, kann er während der oft langen Dauer des Verfahrens durch einen Neuling „ersetzt“ werden, denn vor Krankheit oder Pensionierung ist keiner gefeit. Die Anzahl der Richter, die "keinen Bock" haben, ist aber zum Glück überschaubar, und zum Glück sind manche unerfahrene Richter auch motiviert sich einzuarbeiten - hier wurde sich bei mir sogar schon mehrfach für meine (Zitat) "sehr strukturierte und lehrreiche Klageerwiderung" bedankt.
Wie sieht es mit der richterlichen Neutralität aus?
Auch hier gilt: mal mehr, mal weniger. Wie gesagt: alles nur Menschen. Eine gewisse VN-Freundlichkeit zieht sich leider wie ein roter Faden durch viele Verfahren. Ich nehme an, dass das zumindest auch an der vom BGH propagierten grundsätzlichen Überlegenheit des professionellen Versicherers gegenüber dem laienhaften VN beruht oder auch schlicht aus Mitleid. Es gibt auch Kammern oder Senate, bei denen von vornherein klar ist, dass der Versicherer deutlichen Gegenwind erhält. Sehr verführerisch sind für Richter generell alle Themen, mit denen sozusagen kurzer Prozess gemacht werden kann. In der Praxis sind das vor allem Fristen (Monatsfrist bei der Anzeigepflichtverletzung) und die formellen Anforderungen an Einstellungsmitteilungen im Nachprüfungsverfahren. Unabhängig davon, ob der Richter nun VN-freundlich ist oder nicht, kann der Richter hier, wenn er einen strengen Standpunkt bei der Interpretation der Rechtsprechung einnimmt, die Akte schnell vom Tisch bekommen. Das ist wie gesagt verlockend.
Wie gehen Sie mit diesen schwer einzuschätzenden Umständen um?
Indem ich bereits in meiner Klageerwiderung alle rechtlich und tatsächlich relevanten Aspekte sozusagen mundgerecht auf dem Silbertablett serviere. „Mundgerecht“ bedeutet: so geschrieben, wie Richter denken (sollten) und es sich wünschen, d.h. strikt strukturiert mit einer klaren Gliederung und einer umfassenden Darstellung der maßgeblichen Rechtsprechung, damit nicht lange rumgesucht werden muss. Das alles außerdem sachlich und ohne große Polemik, denn die mögen die meisten Richter gar nicht, und das ist auch nicht mein Stil. Ist der Richter tendenziell VN-freundlich, empfehle ich meinem Mandanten manchmal, die Vergleichsbereitschaft steigen zu lassen, wobei das natürlich immer vom Gesamtgefüge des Falles abhängt. Bisher funktioniert das alles gut.
Ihre Meinung zu Sachverständigen?
Geht es nur um die medizinischen Aspekte der BU, entscheiden sie oft den Prozess. Sachverständige sind eine der großen Unbekannten im Gerichtsverfahren, da die Qualitätsunterschiede immens sind, gerade wenn es um Psyche geht. Das ist ein bisschen Lotterie, etwa wenn ein plausibles Gutachten aus der Leistungsprüfung vom Gerichtssachverständigen mit dem Argument sozusagen vernichtet wird, man brauche doch keine Validierungstests. Sie und ich können das vorab wenig bis gar nicht beeinflussen. Was viele nicht wissen: Die meisten Richter – je unerfahrener, desto mehr - kleben quasi am Ergebnis des Gutachtens, mag es auch inhaltlich Murks sein. Manchmal fehlt vor allem unerfahrenen Richtern ein gewisses medizinisches Grundverständnis oder schlicht die Bereitschaft, sich in solche Themen einzuarbeiten. In solchen Fällen muss dann mit medizinisch fundierten Stellung-nahmen – für die immer ein Arzt hinzugezogen werden muss – ausführlich gegengehalten werden und zwar unbedingt noch in erster Instanz und nicht erst in der Berufung, denn dort wäre das prozessual verspätet. Hier habe ich mit einigen Gutachtern, die dann das Gerichtsgutachten prüfen und mir die medizinischen Texte liefern, gute Erfahrungen gemacht. Ich ergänze dann die medizinische Seite um die juristischen Aspekte. Der Gerichtsgutachter bleibt erfahrungsgemäß trotz fundierter Kritik immer bei seiner Meinung, es geht darum, Zweifel beim Richter zu säen, damit dieser im günstigsten Fall einen neuen Sachverständigen beauftragt.
Inwieweit spielen Zeugen in der Praxis eine Rolle?
In der Regel geht es dabei um die Beweisaufnahme zu den beruflichen Tätigkeiten oder bei der vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzung um die Vernehmung eines Vermittlers zu den konkreten Umständen der Antragsaufnahme. Das Ergebnis einer solchen Beweisaufnahme ist nie vorhersehbar: man weiß nicht, wie sich die Zeugen verhalten, wie sie wirken, was der Richter fragt, wie er fragt, ob er korrekt protokolliert usw. Die Fehlerquellen sind immens. Rein statistisch bestätigen meistens die Zeugen die beruflichen Angaben. Es kommt aber hier immer auf Nuancen an, etwa wenn ein Zeuge sagt, der VN „hebe regelmäßig Gewichte über 20 kg“. Hier muss nachgehakt werden, was „regelmäßig“ bedeutet, und notfalls müssen ungenaue Protokollierungen des Richters moniert werden. Die meisten Richter protokollieren nämlich leider nicht wörtlich.
Wo liegen die Probleme bei Vermittlern als Zeugen?
In der Regel geht es ja um Anzeigepflichtverletzungen und darum, dass der Versicherer beweisen muss, ob bei der Antragstellung getäuscht wurde. Der VN behauptet irgendein Fehlverhalten des Vermittlers, beispielsweise eine Verharmlosung, dass trotz der schriftlichen Gesundheitsfragen nur akute Erkrankungen angegeben werden müssten. Wenn in der Leistungsprüfung alles optimal gelaufen ist, ist der Vermittler dazu schriftlich befragt worden und hat geantwortet, dass er selbstverständlich solche Äußerungen nie getätigt hat und die Antragsfragen von ihm komplett vorgelesen wurden. Im Zeugenstand sieht das dann leider manchmal völlig anders aus: der Vermittler druckst herum, hat plötzlich Erinnerungslücken oder erinnert sich schlicht an gar nichts mehr, weil er jedes Jahr unzählige Gespräche hat. Das juristische Problem liegt hier darin, dass den Versicherer die Beweislast für die Täuschung trifft. Wenn der Vermittler aber beispielsweise aussagt, er könne sich nicht mehr erinnern, wird lediglich bewiesen, dass er sich nicht mehr erinnert, nicht aber die erforderliche Täuschung. Meine persönliche Meinung, basierend auf hunderten solcher Vernehmungen, ist: Gibt es Regressverzichtsabkommen, scheint das Gedächtnis von Vermittlern löchriger zu werden. Ich empfehle unbedingt, den Vermittler in der Leistungsprüfung schriftlich zu befragen, denn dann kann ich ihn im Gerichtstermin bei Spontan-Amnesie wenigstens fragen, warum er einige Monate vorher Ihnen gegenüber etwas ganz anderes aufgeschrieben hat. Manchmal hilft das dem Gedächtnis wieder auf die Sprünge.
Wenn ich das alles so höre, erscheint mir der Spruch „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand“ gar nicht mal so falsch zu sein, oder?
Nein, das sehe ich nicht so. Unsere Justiz funktioniert gut, sie ist aber nicht perfekt, und sie kann es auch nicht sein, weil dort letztlich Menschen wie du und ich arbeiten, deren Entscheidungsfindung wiederum zu großen Teilen davon abhängig ist, was andere Menschen wie du und ich ihnen mitteilen. Man muss sich nur darüber klar sein, dass auch eine saubere und konsequente Leistungsprüfung kein Garant dafür ist, dass deren Ergebnis zwingend Bestand hat. Ich erinnere an mein Costa Rica-Beispiel für zahlreiche Unwägbarkeiten trotz guter Planung.
Wir sehen vor allem viele Vergleiche. Da liegt die Vermutung der Kolleginnen und Kol-legen nahe, dass es sich die Rechtsanwälte vor Gericht einfach machen: Statt die engagiert und mit viel Recherchearbeit begründete Ablehnung zu verteidigen, wird mit den „Euro-Noten gewedelt“, die der Kläger dankend annimmt. DAS hätte man selbst auch gekonnt…
Ich komme noch mal zurück auf’s Reisen: Vor einigen Jahren waren meine Frau und ich in Miami Beach und planten, nach Nord-Florida in das Städtchen Crystal River zu fahren, um dort einen meiner Träume – mit Seekühen (Manetees) zu schwimmen – endlich zu realisieren. Eine akute Hurricane-Warnung für das nördliche Florida führte zu großen Diskussionen und Unsicherheiten, ob wir das wirklich wagen sollten. Wir ließen es, und buchten alles mit erheblichem Zeitaufwand und Mehrkosten um und änderten den gesamten Reiseverlauf. Wenige Tage später stellte sich heraus, dass der Sturm die Gegend noch nicht einmal gestreift hatte. Ein gerichtlicher Vergleich ist wie das Umbuchen: Man weiß nicht genau, was einen erwartet und geht auf Nummer sicher, auch wenn‘s vielleicht im Moment teuer wird. Irgendeine Art von Schwäche oder Notlösung ist das nicht, sondern ein von der Zivilprozessordnung vorgesehenes Mittel, um wechselseitige Risiken zu verringern.
Meine Erfahrung ist, dass häufig erst die gute Vorarbeit in der Leistungsprüfung den Boden für einen Vergleich bereitet, wo sonst womöglich die Klagestattgabe als Ergebnis gestanden hätte. Dies gilt z. B. für den Rücktritt i.V.m. einer Anfechtung. Auch wenn am Ende die Anfechtung scheitert, und auch der Rücktritt vom Gericht angezweifelt wird: es verunsichert den Kläger in seinem Klagebegehren, und er nimmt den Vergleich, statt bis zum Ende durchzufechten mit der Chance auf’s Gewinnen. Es ist auch wichtig zu wissen, dass oft erst die Kombination aus der gründlichen Leistungsprüfung und dem prozessualen „Gegenhalten“ in der Klageerwiderung den Nährboden für sinnvolle Vergleichsgespräche bildet: erst im Gerichtsverfahren mit den wechselseitigen Schriftsätzen realisieren manche VN und Gegenanwälte, dass ein strenger Gegenwind weht und womöglich auch ein unangenehmer Sturm aufzuziehen droht, der ihre Argumentation wegfegen könnte.
Mit Manetees bin ich übrigens bis heute noch nicht geschwommen. Sie sehen also: Neben Top-Ergebnissen für Versicherer habe ich auch noch andere Träume.
Herzlichen Dank für das informative Gespräch, lieber Herr Neuhaus.